Erdgeschossflächen richtig (um)genutzt

Baden, Juli 2021

Das Umnutzen leerstehender Erdgeschosse ist in der Stadtentwicklung – aktuell noch einmal verstärkt durch corona-bedingte Geschäftsaufgaben – ein grosses Thema. Wie lassen sich alte Retailflächen in Orts- und Stadtzentren reaktivieren? Sind vielleicht Coworking-Konzepte das Allheilmittel? Oder sollte viel lieber mehr innerstädtischer Wohnraum geschaffen werden? Eine Bestandsaufnahme.

Erdgeschosslagen in Schweizer Großstädten und Mittelzentren, aber auch in kleineren Gemeinden fristen zusehends ein trostloses Dasein – zumindest abseits der begehrten 1A-Lagen. Nicht erst seit der Covid-19-Pandemie zeigt sich gemäss Immobilienmarktexperten ein deutlicher Funktionswandel bei dieser Art von Flächennutzungen. Wo früher vielleicht eine Gastronomie, ein Café oder ein Coiffeur, ein Metzger oder ein inhabergeführter Modeladen zu finden war, zeigt sich heute vielerorts gähnende Leere.

Im Fokus der Wissenschaft
Nicole Hartmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Innenarchitektur (IIA) an der Hochschule Luzern (HSLU), beschäftigt sich derzeit mit den Umnutzungsmöglichkeiten dieser ganz besonderen Art von Gebäudeflächen. Mit ihren Kollegen Markus Gmünder, Christoph Hanisch und Katharina Kleczka betrachtet sie aktuell in ihrem Projekt «PARTERRE» die «Frage der Umnutzung der Erdgeschossflächen von innen heraus». Hartmann sagt: «Erdgeschosszonen sind ein wichtiger Bestandteil von Gebäuden, aber auch des Stadtbildes.» Umstrukturierungsprozesse im Gewerbe und das Wachstum des Online-Handels bewirkten aber in letzter Zeit einen Wandel in der Funktion der Erdgeschosslagen. Auch soziale und kulturelle Wertverschiebungen sowie rechtliche Rahmenbedingungen spielten mit in die Thematik hinein, so Hartmann. Ganz konkrete Beispiele aus der Praxis sammelte das Projektteam etwa in der portugiesischen Stadt Porto, wo dank neuer Ideen und Innovationen City-Quartiere neu mit KMUs und Start-ups belebt werden konnten. Oder auch kürzlich in der Stadt Luzern, wo aktuell ausgeprägte Leerstände und ungenutzte Geschäfts- und Ladenflächen aufgrund des Ausbleibens internationaler Touristen sichtbar und allgegenwärtig sind.

Eine Lösung: Pop-Up-Läden
Exakt auf solche Leerstände kapriziert sich die Unternehmensgründung Pop-up-Shops von Gründer und Geschäftsführer Chalid A. El Ashker. Er hat mit seinem «Online-Marktplatz» freie Flächen in Baden, Brugg oder Dietikon im Angebot. Die Internet-Plattform des Start-ups mit Sitz in Zollikon bringt Anbieter freier Detailhandels- und Promotionsflächen mit Interessierten zusammen, die eine zeitlich befristete Mietfläche suchen. Selbst Mietvertrag und Mietzinszahlungen werden bei Pop-up-Shops online abgewickelt. Zielgruppen sind Vermieter mit Leerstandflächen einerseits und neue innovative Marken, Firmen, Designer oder Künstler andererseits, welche Flächen zur Ausstellung ihrer Produkte benötigen. «Gleich welche Flächenart – wir optimieren den Vermietungsprozess», sagt El Ashker, dessen Geschäftsidee nicht an den Schweizer Grenzen Halt macht. Auch internationale Geschäftsflächen, beispielsweise in Deutschland, im UK oder in den USA, viele davon im Erdgeschoss eines Gebäudes, sind bei ihm gelistet. Für den Start-up-Gründer hat seine Plattform gleich mehrere Vorteile: «Wir erhöhen die Verfügbarkeit von Ladenflächen und fördern die lokale Wirtschaft, indem wir neue, aufstrebende und etablierte Unternehmen unterstützen.» In der Schweiz arbeitet Pop-up-Shops bereits mit Kunden wie der SBB, der Schweizerischen Post, der Migros, SPG Intercity oder Wincasa zusammen.

Flexible Büroflächen nahe am Wohnort
Doch für leerstehende Geschäftsflächen im Erdgeschoss Schweizer Gemeinden und Städte kommen nicht nur Retail-Lösungen in Frage. Diese Art von Gewerbeflächen können zum Beispiel je nach Vorgaben der Verwaltung und je nach Definition der städtischen Zone auch zu Büroflächen umgenutzt werden. Eines der neudeutsch «Coworking Space» genannten Konzepte bietet die Unternehmung Village Office dar. Sie strebt die Schaffung von mehreren hundert flexibel anmietbaren Coworking-Flächen schweizweit an. Aktuell finden sich bereits im Land mehr als 80 eidgenössische «Coworking Spaces» von Village Office – etwa in Aarau, Bottighofen, Frauenfeld, Luzern oder in Laax, Nyon und Davos.

Als Genossenschaft konzipiert und gegründet will sie neue Arbeitsformen fördern und ein ganzes Netzwerk an «Coworking Spaces» aufbauen. «Wir schaffen damit zugleich Brücken zwischen Gemeinden, Unternehmen, Immobilieneigentümern und Coworkern», sagt Jenny Schäpper-Uster, die 2015 und 2016 zum einen den neuen Branchenverband Coworking Switzerland und zum anderen Village Offices mitgründete. «Unsere Vision ist, dass bis zum Jahr 2030 jede Person in der Schweiz den nächsten ‹Coworking Space› innert 15 Minuten erreicht. Damit entlasten wir die Verkehrsinfrastruktur, erhöhen die lokale Wertschöpfung und verbessern die Lebensqualität mit kürzeren Arbeitswegen.»

«Innenstädte wiederbeleben»
Eine weitere Möglichkeit für die Umnutzung leerstehender Erdgeschossflächen in innerstädtischen Bereichen bringt Innenarchitektin Nicole Hartmann von der HSLU ins Spiel: Wohnraum. «Abhängig von den vorhandenen Grundrissen, Raumhöhen, Fensterfronten und Flächentypen sollte der Fokus auf eine tatsächliche Wiederbelebung der Innenstädte gesetzt werden», sagte sie. Dies könnte dann auch bedeuten, Altstädte für neue Bewohner wieder attraktiv, lebens- und wohnenswert zu machen. Vielerorts in der Schweiz seien Menschen in Randzonen bzw. in Agglomerationen verdrängt worden, weil dort vielleicht zeitgemässe und moderne Grundrisse in Neubauquartieren erstellt wurden. «Hierbei könnte eine Diskussion um neue Mischnutzungen und die Neudefinition von öffentlichen Zonen einen neuen Trend einleiten und viele Stadtzentren bzw. Innenstädte neu beleben», ist Hartmann überzeugt.

Genau dies will das aktuelle Projekt «PARTERRE» untersuchen. Dabei gehe es auch um die Frage, wie sich eine Umnutzung auf die Lebens- und Aufenthaltsqualität der Stadtbewohner auswirkt und wie die Schnittstellen zwischen öffentlichem Stadtleben und privatem Wohnen gestaltet werden können. «Das Projekt berücksichtigt dabei das gesamte Wirkungsgefüge mit den Interessen der verschiedenen Akteure und entwickelt eine nachhaltige und zukunftsfähige Umnutzungsstrategie für leerstehende Erdgeschosse», sagt Hartmann. Wir dürfen schon jetzt gespannt sein auf ihre Projektergebnisse.

Die Stadt Baden – ein positives Beispiel
Baden, die mit über 19’000 Einwohnern drittgrösste Gemeinde im Kanton Aargau, zählt zur Top 5 der 110 Schweizer Wirtschaftsregionen. Hier beheimatet sind rund 2500 Firmen, davon auch viele internationale Unternehmungen. Dank der Anbindung an die Nah- und Fernverkehrsnetze und der Entfernung von nur rund 20 Kilometern nach Zürich, zum Kantonshauptort Aarau und zur Stadt Waldshut-Tiengen in Deutschland ist sie ein regionales Wirtschaftszentrum und auch beliebter Wohnort.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Standortförderer Thomas Lütolf von einer sehr niedrigen Leerstandsquote bei den innerstädtischen Ladenflächen zu berichten weiss: «Von 220 Flächen stehen zurzeit nur drei leer.» Damit sei der Leerstand in den Erdgeschosslagen der Stadt so gering wie seit sechs Jahren nicht mehr – und das trotz der andauernden Corona-Pandemie. Ein Trend, den er bei den Ladenflächen ausmacht, ist die gestiegene Nutzung durch Gastronomie- und Food-Konzepte. Bei den Retail-Läden zeigten sich auch neue Konzepte und Altbewährtes: So bietet etwa Ohne.ch an der Stadtturmstrasse 15 faire und nachhaltige Lebensmittel unverpackt an. Im Bahnhof von Baden konnte überdies die über die Landesgrenzen hinweg bekannte und beliebte Confiserie-Kette Sprüngli angesiedelt werden.

Und auch beim Thema Pop-up-Stores sieht Lütolf mehr Chancen denn Risiken: «Pop-up-Läden sind in Baden nichts Unbekanntes.» Dieser Trend wird sich seiner Meinung nach längerfristig halten und auch schon ob der aktiven Kunst- und Kulturszene in der Stadt freiwerdende Flächen schnell und unkompliziert bespielen können. Einzig beim Mietzinsniveau macht er eine leicht sinkende Tendenz aus. «Aber das macht es dann wiederum für andere Anbietergruppen in diesem Nutzungssegment interessant», so Lütolf. (mr).

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