Neue Berufe durch Kreislaufwirtschaft?

Luzern, Juli 2023

Material wiederverwenden anstatt wegwerfen – so lautet das Prinzip der Kreislaufwirtschaft. Die Baubranche ist besonders materialintensiv. Deshalb kann hier viel Müll reduziert und Energie eingespart werden. HSLU-Experte Stephen Wittkopf weiss, wie das geschehen kann und auch, wo noch Potenzial brachliegt.

Prof. Dr. Stephen Wittkopf, wie findet man eine Wohnung, die nach den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft gebaut ist? Das wäre im Moment sehr schwierig. In der Schweiz gibt es erst einige wenige Wohnhäuser, die nach den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft gebaut wurden, in Winterthur zum Beispiel. In der Industrie und bei Bürogebäuden ist man schon etwas weiter.

Die Idee des Wiederverwendens ist sehr einleuchtend. Warum wird sie nur zögerlich umgesetzt? Weil sich nicht alles, was heute verbaut ist, für die Wiederverwendung eignet. In vielen Gebäuden gibt es so genannte Verbundmaterialien. Das heisst, verschiedene Materialien wie Beton, Holz oder Stahl wurden verklebt. Die kann man nicht einfach trennen. Dadurch entsteht enorm viel Bauschutt. Von all dem Material, das in die Schweiz importiert wird, also Kleider, Computer, Nahrungsmittel und sonstige Gebrauchsgegenstände, ist der weitaus grösste Teil für den Bausektor bestimmt. Das heisst, für Strassen, Brücken und Gebäude. Das ist alles enorm gewichtsintensiv. In der Baubranche besteht deshalb eindeutig am meisten Potential um Material und Energie durch Wiederverwendung einzusparen.

Geht es in der Kreislaufwirtschaft nur um das Wiederverwenden, oder auch um das Umbauen oder Weiterbauen? Der Begriff der Kreislaufwirtschaft lässt sich tatsächlich so weit fassen, dass er jegliche Wiederverwendung einschliesst. Die Frage, wie man bestehende Gebäude erhalten und umnutzen kann, ist die erste Ebene der Kreislaufwirtschaft. Die zweite Ebene ist die Wiederverwendung von Bauteilen und auf der dritten Ebene geht es um das Rezyklieren und die Wiederaufbereitung von Material.

Wie müssten Neubauten gestaltet werden, damit die Komponenten Jahrzehnte später wiederverwendet werden können? Die Materialien müssen trennbar und die Bauteile reparierbar sein. Das bedeutet, dass möglichst reine Materialien zentral sind, die nicht zusammenklebt werden, sondern mit Stecken und Schrauben für Stabilität sorgen. Reparierbarkeit ist für die Langlebigkeit der einzelnen Bauteile wichtig. Es darf nicht sein, dass man ein ganzes Fenster wegwerfen muss, nur weil der Fenstergriff nicht mehr funktioniert. Und zuletzt ist eine akribische Dokumentation wichtig, damit später nachvollziehbar ist, welche Materialien sich wo befinden. Im Moment wird das noch nicht genügend festgehalten.

Bauteile werden kontinuierlich weiterentwickelt; meine Grossmutter hatte Vorfenster, die man abnehmen konnte, heute gibt es Dreifachverglasung. Ist da eine Wiederverwendung in 50 Jahren überhaupt realistisch? Viele Produkte sind heute so gut, dass eine spürbare Verbesserung nur mit deutlich grösserem Aufwand erreicht wird. Und man muss Bauteile ja auch nicht eins zu eines wiederverwenden. Bei Fenstern gibt es ein schönes Beispiel aus dem Kanton Zürich: Ältere, doppelt verglaste Fenster wurden mit einer dritten Verglasung ergänzt; dadurch konnten die so verbesserten Fenster in einem neuen Gebäude wiederverwendet werden.

Das klingt, als ob die Wiederverwendung von Materialien die Arbeit für Architektinnen und Architekten komplett umstellt. Ja, das bedingt einen radikalen Wandel. Die Arbeit der Architektinnen beginnt nicht mehr auf der grünen Wiese. Sie müssen vorhandene Materialien und die Verfügbarkeit von Produkten in ihr Konzept einbauen. Doch dieser Paradigmenwechsel muss nicht zum gestalterischen oder wirtschaftlichen Hindernis werden; er kann zu einer neuen Formensprache führen.

Also muss auch die Bauherrschaft im Boot sein. Genau, sie spielt eine mindestens genauso wichtige Rolle. Die Bauherrschaft kann den Auftrag anders gestalten, und beispielsweise vorgeben, dass nur Gebrauchtmaterialien gesucht werden und auf dieser Grundlage geplant werden soll. Es wird sicherlich ein komplexes Puzzle – aber andere Branchen arbeiten auch mit komplexen und flexiblen Lieferketten. Die Bauwirtschaft hinkt da hinterher.

Wie sieht es punkto Wirtschaftlichkeit aus? Kann Kreislaufwirtschaft im Bau rentabel sein? Das kann sie, aber nicht ohne Aufwand und nicht von heute auf morgen. Es braucht neue Geschäftsmodelle aber auch finanzielle Förderung, da es sich aktuell um einen Nischenmarkt handelt. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass sich das ändern wird.

Und wie könnten die neuen Geschäftsmodelle aussehen? Vielleicht mieten wir irgendwann wiederverwertbare Materialen – also Fenster, Türen, Holz oder Beton – anstatt sie zu kaufen. Oder wir konzipieren ein neues Gebäude von Anfang an als Materiallager für spätere Bauten. Das ergibt eine ganz neue Berechnungsgrundlage, weil die Materialkosten nicht gesamthaft amortisieren werden müssen. Die Materialien könnten an Materialbörsen gehandelt werden – das wird in anderen Ländern wie Dänemark übrigens schon gemacht. Vielleicht entstehen dadurch sogar neue Berufe, wie zum Beispiel Bauteiljäger.

Das klingt spannend. Es verändert also die gesamte Konzeption von Neubauten? Eindeutig. Wird die Zukunft eines Gebäudes mitgedacht, wird es so gebaut, dass es mit möglichst geringem Aufwand umgenutzt werden kann. Die Gesellschaft verändert sich, und mit ihr die Bedürfnisse für Wohnraum. Ein Quartier, das einst für Familien konzipiert wurde, passt Jahrzehnte später eventuell nicht mehr für die Bedürfnisse der mittlerweile alten Generation. Können die Familienwohnungen mit relativ geringem Aufwand in kleinere umgebaut werden, spart man Geld, Material und Energie.

In welchen Bereichen der Baubranche würden Sie die Schweiz als fortschrittlich bezeichnen? Die Schweiz ist bei der Wiederverwendung von Beton schon recht weit. Heute wird Naturstein oder Kies durch aufbereiteten Bauschutt ersetzt, der ansonsten auf der Deponie landen würde. Nebst Wiederverwendung bringt das den Vorteil, dass Deponiegebühren eingespart werden. Bei grossen Neubauprojekten werden die Baukonzepte zudem immer flexibler. Generell beobachte ich bei den Bauherrschaften ein wachsendes Interesse für Kreislaufwirtschaft. In der Schweiz hat der Kanton Zürich eine Vorreiterrolle. Und wir als Hochschule forschen natürlich zum Thema und haben den Auftrag, eine junge Generation für das Thema zu sensibilisieren, indem wir in unseren Aus- und Weiterbildungen gebrauchten Materialien einen hohen Stellenwert einräumen.

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