Die SIA-Vertragsnormen auf dem Prüfstand
Die Vertragsnormen des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins sind ein zentraler Pfeiler der Bau- und Planungsbranche. Sie entstehen aus einer engen Zusammenarbeit von Baupraktikern und Planungsfachleuten, die technische und organisatorische Abläufe praxistauglich regeln. Dennoch bleiben sie ein steter Anlass für Kritik aus juristischer Sicht. Anders als technische Normen, die als „anerkannte Regeln der Baukunde“ oft direkt rechtlich relevant sind, benötigen Vertragsnormen immer eine vertragliche Vereinbarung, um im Streitfall verbindlich zu gelten.
Die SIA-Vertragsnormen wie die Allgemeine Bedingungen Bau oder die Leistungs- und Honorarordnungen sind das Resultat eines Kompromisses. Baupraktiker schreiben verständliche und praxisnahe Regeln, wobei Juristen auf Präzision und Rechtsklarheit pochen. Während sich technische Normen klar an die Fachleute richten und ohne weitere Vereinbarung gelten, sind Vertragsnormen stets Gegenstand der Abstimmung, in ihrer Formulierung, Rechtswirksamkeit und Vollständigkeit.
Kritikpunkte betreffen oft die Begriffswahl und die Trennung von Pflichten und Mitwirkungshandlungen. Beispielsweise bleibt rechtlich offen, ob bestimmte Aufgaben des Bauherrn „Pflichten“ oder bloße „Obliegenheiten“ sind. Für die Praxis spielt das kaum eine Rolle, doch für Juristen ist die Unterscheidung entscheidend, wenn Rechtsfolgen abzuleiten sind. In der Baupraxis haben sich die ABB insbesondere bei der Klärung von Nebenleistungen und gewerkspezifischen Themen bewährt, trotz immer wieder aufflammender Kritik von Rechtswissenschaftlern. Tatsächlich sind Streitfälle, die konkret aus dem Wortlaut der ABB entstanden wären, kaum bekannt.
Sprache, Vergütung und Rechtsentwicklung
Die fortlaufende Revision der SIA-Vertragsgrundlagen zeigt, wie sich Planung und Recht einander annähern. So werden Begriffe wie „Teilzahlungen“ in der LHO statt „Abschlagszahlungen“ verwendet, eine rechtlich relevante Änderung, die dem Praxisalltag Rechnung trägt und Rückforderungen erschwert. Juristische Optimierungen betreffen oft die Sprache und die Formvorgaben. In der revidierten LHO kann beispielsweise eine Vereinbarung auch per E-Mail erfolgen, da dies für den Nachweis genügt und zeitgemäss ist.
Gleichzeitig bleibt die Rechtssprache oft schwerfällig, da Gesetzestexte und Normen selten modernisiert werden und vielfach auf antiken Rechtsquellen beruhen. Gerade im Obligationenrecht prägt das römische Vertragsverständnis viele Formulierungen noch heute. Die SIA-Vertragsnormen sind also ein Abwägen zwischen Verständlichkeit, Rechtssicherheit und der gelebten Praxis, mit Kompromissen, die beide Seiten fordern.
Berufsverständnis und Weiterentwicklung
Der interdisziplinäre Normenprozess hat sich bewährt und dient als Vehikel für die Berufsentwicklung. Beispielsweise formuliert der Artikel zur Tätigkeit der Architektin in der neuen LHO SIA 102 das Berufsverständnis, wobei Juristen warnen, dass ein zu umfassendes Leistungsbild auch Haftungsrisiken birgt. Der laufende Diskurs zwischen Juristen und Planern ist nötig. Die beruflichen und rechtlichen Ansprüche müssen im Dialog weiterentwickelt werden, damit die SIA-Vertragsnormen auch künftig als praxisorientierte, verhandelbare Standards dienen.
Insgesamt zeigen die SIA-Vertragsnormen, wie Recht und Baupraxis voneinander lernen können und dass praxisnahe Normen, auch wenn sie juristisch diskutiert werden, einen nachhaltigen Mehrwert für die gesamte Branche schaffen.